Ein Hobbit auf Hiddensee oder wie der Goldschatz gerettet wurde… Nach manch wahren Begebenheiten frei erfunden von Heidi Brang
„Heidi darf durch die Küche“, sagt René an jenem stürmischen verregneten Samstagnachmittag im März zu Nils, als du geradewegs vom Hafen pitschnass ins Norderende kommst und das glückliche Gefühl spürst, bei guten Freunden willkommen zu sein. Die Geräuschkulisse aus dem Klappern der Teller, Tassen, Kuchengabeln und Teelöffeln und dem Plappern der Gäste sowie der Duft nach frischem Kaffee und warmem Pflaumenkuchen zaubern eine gemütliche Kaffeehausatmosphäre in den Gastraum. Abgesehen von deinen Menschenfreunden, mit denen du das Wochenende verbringen wirst und die schon mit der Mittagsfähre gekommen sind, sitzen da mehrere Mohnkuchenesser und Apfelkuchenliebhaberinnen, der Steinesammler, der Elektriker, der immer vorn am kleinen Tisch unter dem Fenster zur Terrasse sein Aquavit trinkt und ein seltsamer schleimiger Typ mit fettigen Haaren, Bierbauch und dicken Brillengläsern, der dich anglotzt, als hätte er noch nie einen Hobbit gesehen. Du liebst diese Insel, seit dein alter Elbenfreund Dave dich herschickte, weil er sich ganz sicher war, sie würde dir gefallen. „Hiddensee ist deins, glaub mir“, sagte er damals und gab dir viele Empfehlungen und Warnungen mit auf den Weg. Er sollte Recht behalten: Hiddensee bedeutet dir eine Art Rückkehr in die Heimat deiner Vorfahren aus alten Zeiten. Hiddensee bedeutet dir Mittelerde, Auenland, Südviertel, Hobbingen. Und als ob der Wiesenweg der Beutelhaldenweg wäre, hast du mit dem Norderende sogar ein Beutelsend gefunden. Das Norderende liegt zwar nicht unter dem Berg, aber es besitzt denselben Charme und dieselben kleinen runden und großen halbrunden Fenster wie Bilbos Hobbithöhle. Und hier herrscht derselbe Geist wie einst zu Bilbos Zeiten: Fremde werden herzlich mit offenen Armen empfangen, zu essen und zu trinken gibt es stets lecker und reichlich und Zeit für ein gutes Gespräch oder eine lockere Plauderei findet sich allemal. Denn im Norderende herrscht René Hempel: Er ist etwas runder geworden, seit du ihn zuletzt gesehen hast. Und er hat Nils eingestellt, „das Frollein mit Bart“, wie er ihn liebevoll nennt. Die beiden passen zusammen wie zwei linke Latschen. René sieht viel und weiß viel über Menschen, er ist Gastwirt mit Leib und Seele, und René besitzt die seltene Gabe, jedem Gast das Gefühl zu geben, er sei etwas Besonderes. Nils arbeitet daran. Er macht zwar ein ziemlich verwundertes Gesicht, nimmt aber artig deine Reisetasche und bringt dich durch die Küche zum Hinterausgang und dann trockenen Fußes auf dein Zimmer.
Am Sonntag, nach dem köstlichen Frühstück im Norderende, das seinesgleichen auf der Insel sucht, aber nicht findet, machen deine Freunde einen Spaziergang nach Kloster, weil wieder einmal Menschen darunter sind, die Hiddensee nicht kennen und unbedingt ins Hauptmann-Haus wollen. Du leihst du dir ein Kinderfahrrad und fährst Richtung Neuendorf. René sagt zwar, in Neuendorf sei ungefähr so viel los wie in Brandenburg und also gar nichts, aber du willst trotzdem zum kleinen Leuchtturm fahren, weil du ihn noch nie gesehen hast. Auf halben Weg nach Neuendorf, ungefähr auf Höhe der Heiderose, stellt sich dir plötzlich dieser schleimige Typ mit den fettigen Haaren und dem Bierbauch und den dicken Brillengläsern in den Weg und beginnt dich vollzutexten: Wieso du so klein bist, was du auf Hiddensee machst, wie lange du bleibst und wieso du im Norderende das seltene Privileg besitzt, in die Küche zu dürfen. Dir bleibt nichts anderes übrig, als vom Fahrrad zu steigen. „Ich bin ein Hobbit“, sagst du, „und was geht es Sie an, dass ich in Renés Küche darf?“ Der schleimige Typ beginnt zu flüstern. Es gäbe da etwas in der Küche des Norderende, für das manche Leute eine Menge Geld ausgeben würden. Wenn es um Geld geht, wirst du neugierig. Du schaust dem schleimigen Typen in die Augen. Er hebt zu einer Erklärung an: „René Hempel hat vor einem Jahr den Hiddenseer Goldschatz wiederentdeckt.“ Er macht eine Kunstpause, um seiner Aussage Gewicht zu verleihen. Es gibt kein Gold in Renés Küche, das weißt du sicher, Gold wäre dir aufgefallen. „René Hempel hat die uralte Hiddenseer Tradition der Dorschbuletten wiederentdeckt.“ „Na und“, sagst du, „Fischbuletten kann doch jeder.“ „Ja, irgendwelche Fischbuletten kann jeder“, beginnt der Schleimer sich aufzuregen, „aber der Hempel macht Dorschbuletten, die echtes Gold wert sind. Und wir haben schon alles probiert, aber wir kommen nicht hinter sein Geheimnis. Nie schmecken unsere Dorschbuletten wie seine. Entweder sie sind zu hart oder zu labbrig, zu scharf oder zu lasch, mal ist zu viel Dorsch drin, mal zu wenig. Irgendwas machen wir immer falsch. Deshalb brauchen wir sein Rezept.“ Seine Stimme kippt ins Verschwörerische: „Und Sie scheinen mir sehr geeignet, es uns zu liefern. Sie sind wirklich ein Hobbit, und Hobbits sind schließlich berühmt dafür, dass sie unbemerkt wie Meisterdiebe stehlen können. Und Sie dürfen in Hempels Küche. Und Sie scheinen – zumindest Ihrer Kleidung nach – nicht besonders reich zu sein.“ Jetzt bist du beleidigt, aber man kann dich wirklich noch mit Geld bestechen. Und in diesem Frühjahr ganz besonders, denn du brauchst ein neues Auto, weil dein alter kleiner Golf nach vierundzwanzig Jahren seinen Geist aufgab. Dein Hirn beginnt zu arbeiten. Wie viel ist so ein Rezept wohl wert? Es gibt doch Unmengen an Kochbüchern, in denen jeder Möchtegern-Jamie-Oliver seine Rezepte freiwillig preisgibt? „Wie viel würden manche Leute denn ausgeben?“ „Tausend.“ Nicht schlecht, denkst du, sagst aber: „Ich dachte mindestens das Doppelte.“ „Na ja“, überlegt der Schleimer, „tausend fürs Rezept und tausend, nachdem wir es nachgemacht haben und sehen, dass wir nicht betrogen wurden.“ „Tausend gleich, tausend wenn ich Ihnen das Rezept bringe und noch mal tausend, nachdem Sie es ausprobiert haben“, sagst du frech und beginnst abzuwägen: Dreitausend reichen natürlich für ein neues altes Auto, aber dreitausend für dein beinahe freundschaftliches Verhältnis zu René, dreitausend für dein Zu-Hause-Gefühl im Norderende, dreitausend für ein Rezept, von dem du nicht einmal weißt, ob es existiert und falls ja, wo es liegt… „Rufen Sie mich an“, sagt der Schleimer und gibt dir einen Zettel mit einer Telefonnummer. Am Nachmittag kannst du sogar auf der Terrasse des Norderende sitzen, weil die Sonne scheint. Du bittest René um eine Dorschbulette, die du bis dahin überhaupt noch nicht gegessen hast. Nils empfiehlt dir die Version „Dorschburger“: Dorschbulette im Brötchen mit einem Blatt Salat, Senf und einer kleinen Gewürzgurke. Die Dorschbulette schmeckt tatsächlich sensationell: nach Dorsch, nicht nach irgendeinem Fisch, gut gewürzt, nicht zu scharf, nicht zu salzig, nicht zu fettig, außen goldig-knusprig, innen locker, aber nicht krümelig, einfach perfekt. „Wie machst du die?“, fragst du René, der aus dem Fenster auf die Terrasse schaut. „In der Pfanne“, antwortet er, und Nils lacht. „Das dachte ich mir, aber worin besteht das Geheimnis? Hast du das Rezept irgendwo aufgeschrieben?“ „Aufschreiben?“ René schaut dich an, als hättest du ihm etwas Unmoralisches unterstellt. „Ich bin Koch, die Schriftstellerin bist du.“ „Und kannst du mir das Rezept sagen, damit ich es aufschreibe?“ „Was willst du mit dem Rezept? Du machst dir doch sowieso keine Dorschbuletten selber.“ René kennt dich also besser als du denkst. Du isst und trinkst so gern wie jeder andere Hobbit auf der Welt, aber vom Kochen, Backen und Braten verstehst du wenig. Und weil Plan A nicht funktioniert, aber das Alphabet 25 weitere Buchstaben kennt, entscheidest du dich für die halbe Wahrheit: „Es gibt Leute auf der Insel, die zahlen tausend Euro für dein Dorschbulettenrezept.“ René zündet sich eine Zigarette an und sagt dann für seine Verhältnisse ziemlich ernst: „Seh ich aus, als ob ich Geld brauche?“ In diesem Moment fällt dir ein, dass René einen Porsche Cayenne besitzt, der in Schaprode steht, weil er nicht mit nach Hiddensee darf. Nils fragt: „Wer zahlt denn tausend Euro für das Rezept?“ Wenigstens noch einer, der Geld braucht, denkst du und sagst: „Dieser schleimige Typ mit den fettigen Haaren und dem Bierbauch und den dicken Brillengläsern, der gestern hier Kaffee getrunken hat.“ „Ach der! Jetzt weiß ich endlich, warum der seit Monaten hier rumlungert. Der kann natürlich ein Rezept bekommen…“ René grinst, Nils grinst mit, und du sagst dir wieder einmal, wer Männer versteht, kann auch durch Null teilen. Du rufst den schleimigen Typen an und sagst ihm, dass er dir tausend Euro bringen soll, wenn er bis Dienstag das Rezept bekommen will. Du isst mit deinen Freunden zu Abend im Gasthaus „Zum Hiddenseer“, das René euch empfiehlt, und tatsächlich bringt dir der Schleimer einen Umschlag mit tausend Euro.
Am Montag nach dem köstlichen Frühstück im Norderende, das seinesgleichen auf der Insel sucht, aber nicht findet, gibt René dir einen handgeschriebenen Zettel mit Fettflecken und eingerissenen Rändern. „Den kannst du verkaufen“, sagt er und grinst wie am Vortag. Du schaust neugierig auf das Rezept. Alle anderen Zutaten scheinen dir gewöhnlich, nur Bärlauch hast du nicht erwartet. Du verbringst einen wundervollen Tag mit deinen Freunden auf der Insel, so wie du es gern tust: mit einem langen Spaziergang am Strand auf der Suche nach Hühnergöttern, die du sowieso nicht findest, mit einem Mittagessen beim Fischer in Grieben, der die besten grünen Heringe brät, mit einem Kaffee und einem Stück Pflaumenkuchen auf Renés Terrasse und einem Nachmittagsschläfchen, weil es wieder zu regnen beginnt. Für den Abend bestellst du den Schleimer ins Norderende und bekommst tatsächlich noch einmal tausend Euro für den fettigen zerknitterten Zettel mit Renés Handschrift. Dein sechster Sinn für Gefahr hindert dich daran, dem schleimigen Typen deine Adresse für die letzten tausend Euro zu hinterlassen. „Geben Sie den letzten Umschlag einfach bei Herrn Hempel ab“, sagst du. „Ich komme ja im Sommer wieder, dann freu ich mich, wenn ich Post habe.“ So richtig einverstanden scheint der Schleimer nicht zu sein. Etwas an ihm sagt dir zudem, dass er sowieso nicht die Absicht hegt, sein Wort zu halten. Abends sitzt du mit René und Nils und deinen Freunden im Norderende. Ihr esst Dorschbuletten, trinkt jede Menge Bier und Rotwein und Renés selbstgemachten Sanddornlikör und erzählt euch alte Geschichten von den legendären Drei-Tage-Feiern im Norderende zu Jacobs fünfzigsten Geburtstag, als du René kennen lerntest, der damals die wenigen Stunden zwischen dem Ende der Party und dem Frühstück auf dem Kunstledersofa im Gastraum kampierte und bei dem seither die berühmte kleine weiße Tüte mit der Aufschrift „Dem besten Wirt von Hiddensee“ im Regal steht.
Am Dienstag nach dem köstlichen Frühstück im Norderende, das seinesgleichen auf der Insel sucht, aber nicht findet, müsst ihr alle wieder nach Hause. Du nimmst mit deinen Freunden die Fähre um neun Uhr dreißig, und wie stets gelingt es dir nur Hiddensee zu verlassen, weil du weißt, dass du wiederkommst. Zu Hause freust du dich vor allem über die zweitausend Euro, die du in die Autosparbüchse legst. Am nächsten Sonntag telefonierst du wie fast jeden Sonntag mit deiner Schwester Daniela, die am Bundesinstitut für Risikobewertung arbeitet. Sie fragt dich, ob du auf Hiddensee Dorschbulette gegessen hast. „Natürlich“, sagst du, „Renés Dorschbuletten sind fantastisch. Aber wieso fragst du danach?“ Daniela berichtet, dass ihr Labor aus Neuendorf die Lebensmittelreste von Etwas bekommen hat, das Dorschbulette gewesen sein soll und dass sie dieses Etwas auf Gifte oder andere Schadstoffe untersuchen musste, weil eine ganze Restaurantbesatzung vom Koch bis zum Abwäscher und rund zehn Gäste auf dieses Etwas mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall reagiert hatten. Du ahnst Schreckliches: „Und hat der Koch nach irgendeinem Rezept gearbeitet?“, fragst du und hoffst, deine Schwester spürt die Angst in deiner Stimme nicht. „Es gab vermutlich ein Rezept“, erzählt Daniela, „aber der Koch soll es vor Wut zerrissen und verbrannt haben. Und abgesehen davon behauptet er, das Rezept von einem Hobbit bekommen zu haben. Gibt es überhaupt Hobbits auf Hiddensee? Das würden wir doch wissen, oder?“ „Natürlich würden wir das wissen“, antwortest du. „Aber wir besitzen keine Verwandten auf der Insel, die hätte ich längst gefunden.“ „Siehst du“, sagt deine Schwester, „deshalb stimmt die Geschichte, die der Koch erzählt, vorn und hinten nicht. Wir haben nämlich eine Überdosis Bärlauch in dem Zeug gefunden, und davon sind die Leute krank geworden. Aber wer macht bitteschön Bärlauch an Dorschbuletten?“